Deep Dive Serie: Lautlose Gefahr: Wie Lärm unsere Ozeane krank macht (Teil 1)
- Doris Divebomber
- 1. Apr.
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Juli

Von Doris Divebomber
Okay, liebe Landratte und angehender Meeresversteher! Setz die Ohrenschützer auf – oder besser gesagt, nehm sie ab und spitz die Lauscher, denn wir tauchen heute ab. Tief hinab. In eine Welt, die wir gerne für still und friedlich halten, die aber in Wahrheit immer mehr zu einer ohrenbetäubenden Dauerbeschallung verkommt. Willkommen zum ersten Teil unserer April-Deep-Dive-Serie für alle Tribune PRO-Abonnenten.
Und ja, wir wissen, was du jetzt denkst: "Lärm? Im Ozean? Ich hör' doch höchstens mal 'ne Welle plätschern oder 'ne aufdringliche Möwe schreien!" (Letztere sind übrigens Kollegen von uns, also ein bisschen Respekt, bitte!) Aber genau das ist das Tückische:
Der Lärm, um den es hier geht, ist für uns an der Oberfläche meist unsichtbar und unhörbar. Eine Gefahr, die sich unter dem blauen Teppich verbirgt, während wir oben Selfies mit Sonnenuntergang machen.
Eine Gefahr, die wir kollektiv unterschätzen, ignorieren oder schlicht nicht auf dem Schirm haben. Und genau deshalb sind wir hier, deine unerschrockene Möwen-Crew von der Ocean Tribune, um mal ordentlich Klartext zu reden und ein bisschen Krawall gegen diese Ignoranz anzuzetteln.
Teil 1: Die unterschätzte Bedrohung – Was zum Teufel ist Unterwasserlärm überhaupt?
Fangen wir mal ganz vorne an, bei den Basics, damit auch du Süßwassermatrose an Bord kommst. Was ist Schall? Physik-Grundkurs, aufgepasst: Schall sind Druckwellen, die sich durch ein Medium bewegen – Luft, Wasser, fester Boden, Omas Käsekuchen, you name it. Wenn wir reden, schreien oder (im Falle einiger Zeitgenossen) einfach nur atmen, versetzen wir Luftmoleküle in Schwingungen, die sich wellenförmig ausbreiten und irgendwann auf dein Trommelfell treffen. Bumm, Geräusch.
Im Wasser läuft das Spiel aber nach leicht anderen Regeln. Wasser ist viel dichter als Luft. Etwa 800 Mal dichter, um genau zu sein. Das hat Konsequenzen: Schallwellen reisen unter Wasser rund viereinhalb Mal schneller als an Land. Stell dir vor, du rufst deinem Kumpel am anderen Ende eines Fußballfeldes etwas zu – an Land kommt der Ruf vielleicht etwas müde an. Unter Wasser wäre es, als stündest du direkt neben ihm und brüllst ihm ins Ohr (okay, leichte Übertreibung, aber du verstehst das Prinzip). Außerdem verliert Schall unter Wasser über große Distanzen viel weniger Energie, besonders bei niedrigen Frequenzen.
Ein tiefer Ton kann sich unter Wasser über Hunderte, ja Tausende von Kilometern ausbreiten. Das ist kein Bug, das ist ein Feature! Zumindest war es das mal, in der natürlichen Welt.

Denn für unzählige Meeresbewohner ist Schall nicht nur irgendein Sinneseindruck – er ist der Sinn schlechthin. In den oft trüben oder stockfinsteren Tiefen der Ozeane, wo Sichtweiten gegen Null tendieren, ist das Gehör das wichtigste Werkzeug zum Überleben. Wale und Delfine nutzen komplexe Gesänge und Klicklaute zur Kommunikation über riesige Distanzen, zur Navigation (Echolot lässt grüßen, die Natur konnte das schon viel früher) und zur Jagd. Fische lauschen auf die Geräusche von Riffen, um ihren Weg zu finden, oder auf die verräterischen Schwimmbewegungen von Raubfischen (oder Beute). Selbst winzige Krebstierlarven orientieren sich an den Geräuschen gesunder Korallenriffe, um ihr zukünftiges Zuhause zu finden. Der Ozean ist von Natur aus kein stiller Ort – er ist erfüllt von einem komplexen Konzert aus Wellenrauschen, Regenprasseln, den Gesängen der Wale, dem Knistern von Krabben, dem Grunzen von Fischen und dem Grollen unterseeischer Vulkane oder Erdbeben. Ein natürlicher Soundscape, an den sich das Meeresleben über Jahrmillionen perfekt angepasst hat.
Und jetzt kommen wir. Der Mensch. Homo Sapiens Insipiens. Mit unseren Schiffen, unseren Sonaren, unseren Ölbohrplattformen, unseren Windparks, unseren seismischen Untersuchungen und unserem ganzen anderen industriellen Gerümpel.
Wir haben diesen natürlichen Soundscape genommen und ihn mit einer Lärmkaskade überflutet, die in ihrer Intensität und Allgegenwart historisch beispiellos ist.
Von Sound zu Noise: Wann wird Geräusch zum Problem?
Nicht jedes menschengemachte Geräusch ist automatisch Lärm. Aber Lärm ist per Definition unerwünschter, störender oder schädlicher Schall. Und genau das ist es, was wir in die Ozeane pumpen. Stell dir vor, du versuchst, dich in einer überfüllten Kneipe bei laufender Jukebox, gleichzeitigem Fußballspiel auf drei Bildschirmen und dem Gebrüll von hundert Betrunkenen mit jemandem am anderen Ende des Tisches zu unterhalten. Unmöglich, oder? Eure Stimmen gehen unter, ihr versteht nur Wortfetzen, seid gestresst und wollt eigentlich nur noch fliehen.
Genau das passiert unter Wasser, nur in viel größerem Maßstab und mit potenziell tödlichen Folgen. Der Lärm, den wir verursachen, überlagert, maskiert und zerstört die natürlichen Kommunikationswege und die akustische Wahrnehmung der Meeresbewohner.
Warum aber "unterschätzt"? Das Gift, das wir nicht sehen (und kaum hören)
Okay, Lärm ist blöd, verstanden. Aber warum ist das eine unterschätzte Bedrohung? Müssten wir das nicht längst auf dem Zettel haben, neben Plastikmüll, Überfischung und Klimawandel? Tja, da gibt es mehrere Gründe, warum der Unterwasserlärm so ein Schattendasein fristet:
Die Unsichtbarkeit: Das Offensichtlichste zuerst. Lärm ist nicht greifbar. Man kann keine Fotos von ihm machen wie von einem ölverschmierten Vogel oder einer Schildkröte, die sich in einem Fischernetz verheddert hat. Man kann ihn nicht am Strand aufsammeln wie Plastikflaschen. Er ist da, aber eben unter der Oberfläche. Aus den Augen, aus dem Sinn – ein menschliches Grundproblem, das hier voll zuschlägt. Wir sehen das glitzernde Meer und denken "alles paletti". Was darunter akustisch abgeht, entzieht sich unserer direkten Wahrnehmung.

Die Komplexität: Unterwasserlärm ist kein einzelnes, klar definierbares Problem wie etwa eine bestimmte Chemikalie. Es ist ein Cocktail aus verschiedensten Quellen, Frequenzen und Lautstärken, die je nach Ort, Zeit und Tiefe variieren. Ein Schiffspropeller erzeugt einen anderen Lärm als ein Militärsonar oder die Rammschläge beim Bau einer Offshore-Windkraftanlage. Unterschiedliche Frequenzen wirken sich auf unterschiedliche Arten aus. Das macht es schwierig, das Problem umfassend zu erfassen, zu messen und vor allem zu regulieren. Es ist einfacher, einen Schadstoff zu verbieten, als den "Lärm" an sich zu reglementieren.
Mangelndes öffentliches Bewusstsein und mediale Aufmerksamkeit: Hand aufs Herz: Wann hast du das letzte Mal einen großen Bericht über Unterwasserlärm in den Abendnachrichten gesehen? Eben. Während (völlig zu Recht!) viel über die sichtbaren Umweltkatastrophen berichtet wird, bleibt der Lärm oft ein Nischenthema für Wissenschaftler und einige wenige NGOs. Es fehlen die dramatischen Bilder, die Emotionen wecken und politischen Druck erzeugen. Die "Story" ist schwerer zu erzählen. Wir von der Tribune versuchen das hiermit zu ändern, aber es ist ein zähes Ringen gegen die lauteren (im medialen Sinne) Themen.
Die schleichende Veränderung (Shifting Baseline Syndrome): Wir haben schlicht vergessen, wie ein "gesunder", natürlicher Ozean klingt. Der Lärmpegel in vielen Meeresregionen hat sich seit Beginn der Industrialisierung dramatisch erhöht. Studien deuten darauf hin, dass der Hintergrundlärm im unteren Frequenzbereich (wo viele große Meeressäuger kommunizieren) sich alle zehn Jahre etwa verdoppelt hat – das entspricht einer Zunahme um etwa 3 Dezibel pro Dekade über viele Jahrzehnte hinweg! Forscher schätzen, dass der globale menschengemachte Unterwasserlärmpegel seit prä-industriellen Zeiten um das Zehn- bis Hundertfache angestiegen ist (das sind 10 - 20 dB mehr). Das Problem: Wir haben kaum Referenzwerte von damals. Die heutige Lärmkulisse ist für uns zur neuen Normalität geworden. Wir messen den Zustand der Ozeane an einem bereits degradierten Ausgangspunkt. Wir wissen gar nicht mehr, was wir verloren haben.
Verzögerte und schwer nachweisbare Auswirkungen: Anders als bei einer akuten Ölverschmutzung, bei der Tiere direkt sterben, sind die Folgen von Lärm oft subtiler und langfristiger. Chronischer Stress, veränderte Verhaltensmuster, verminderter Fortpflanzungserfolg, Vertreibung aus wichtigen Lebensräumen – all das ist schwer zu quantifizieren und eindeutig auf den Lärm zurückzuführen. Es gibt zwar immer mehr Beweise (dazu mehr in Teil 3), aber der direkte Kausalzusammenhang ist oft schwerer zu belegen als bei anderen Umweltproblemen. Das macht es für Skeptiker und Wirtschaftslobbys leicht, das Problem kleinzureden.
Ein paar Zahlen, um das Grauen greifbar zu machen
Lass uns mal kurz versuchen, das Ausmaß zu verdeutlichen. Schallintensität wird in Dezibel (dB) gemessen.
Wichtig: Die Dezibel-Skala ist logarithmisch, nicht linear. Das heißt, eine Erhöhung um 10 dB entspricht einer Verzehnfachung der Schallintensität! Eine Erhöhung um 20 dB bedeutet eine Verhundertfachung.
Und ganz wichtig: Dezibel unter Wasser sind nicht direkt mit Dezibel in der Luft vergleichbar, weil Wasser und Luft unterschiedliche Referenzdrücke und Impedanzen haben. Ein Geräusch von 170 dB re μPa (die Einheit für Unterwasserschall) ist nicht dasselbe wie 170 dB re 20 μPa (die Einheit für Luftschall). Grob gesagt, muss man von einem Unterwasser-dB-Wert etwa 62 abziehen, um einen vergleichbaren Luft-dB-Wert zu erhalten (bezogen auf die Intensität). Aber auch dann ist der Vergleich schwierig, weil die Auswirkungen auf Organismen unterschiedlich sind.
Nur mal als Hausnummern, um die Relationen zu verstehen (alle Angaben in Unterwasser-dB re 1 μPa):
Natürliches Hintergrundrauschen in einem ruhigen Ozean: ca. 20 - 50 dB
Regen auf die Meeresoberfläche: ca. 60 - 85 dB
Kleines Motorboot: ca. 150 - 160 dB in unmittelbarer Nähe
Großes Containerschiff (Hauptquelle des permanenten Lärms): ca. 180 - 190 dB (vor allem tiefe Frequenzen, die sich weit ausbreiten)
Militärisches Mittelfrequenz-Sonar: Kann Spitzen von 235 dB und mehr erreichen!
Seismische Airguns (zur Suche nach Öl und Gas): Pulsierende Explosionen alle paar Sekunden, oft über 250 dB nahe der Quelle. Das sind mit die lautesten Geräusche, die der Mensch überhaupt erzeugt.

Stell dir vor, die natürliche Geräuschkulisse ist ein leises Gespräch im Wald (ca. 30 - 40 dB Luftschall). Ein großes Schiff ist dann wie ein Presslufthammer direkt neben deinem Ohr (ca. 110 - 120 dB Luftschall). Und eine Airgun? Das ist weit jenseits von dem, was unsere Ohren (oder die der Meerestiere) verkraften können, vergleichbar mit dem Start eines Raketentriebwerks aus nächster Nähe. Nur eben unter Wasser, und die Schallwellen dringen tief in den Ozeankörper ein.
Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) hat anerkannt, dass Unterwasserlärm durch Schiffe ein wachsendes Problem ist. Schätzungen gehen davon aus, dass die kommerzielle Schifffahrt für den Großteil des permanenten, niederfrequenten Lärms im Ozean verantwortlich ist, und der weltweite Schiffsverkehr nimmt weiter zu. Allein die Anzahl der Schiffe auf den Weltmeeren hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Mehr Schiffe, größere Schiffe, oft schnellere Schiffe = mehr Lärm. Eine einfache, aber fatale Gleichung.
Ein Vorgeschmack auf das Kommende: Warum das alles so fatal ist
Wir haben jetzt geklärt, was Unterwasserlärm ist und warum er so sträflich unterschätzt wird. Aber warum genau ist er so gefährlich für die Meeresbewohner? Das ist das Thema für die nächsten Teile unserer Serie, aber lass uns hier schon mal einen kleinen Teaser geben:
Es geht um Kommunikationsmaskierung: Wenn der Buckelwal-Bulle singt, um ein Weibchen anzulocken, sein Ruf aber im Dröhnen der Schiffsmotoren untergeht. Es geht um physiologischen Stress: Wenn der konstante Lärmpegel die Tiere genauso stresst wie uns der Baustellenlärm vor dem Fenster – mit Folgen für Immunsystem, Stoffwechsel und Herzfrequenz. Es geht um Verhaltensänderungen: Wenn Delfine ihre Jagdgebiete verlassen, weil seismische Tests sie vertreiben, oder wenn Fische nicht mehr die Laichgründe finden. Es geht um physische Schäden: Wenn extrem laute Schallereignisse wie Sonar-Impulse oder Explosionen das Gehör von Meeressäugern dauerhaft schädigen, zu Strandungen führen oder sogar innere Verletzungen verursachen können.
Der Lärm raubt den Tieren ihren wichtigsten Sinn, er macht sie krank, er vertreibt sie und er kann sie im schlimmsten Fall töten. Es ist eine unsichtbare Verschmutzung, die aber sehr reale und verheerende Konsequenzen hat.
Fazit für Teil 1: Augen (und Ohren!) auf!
So, das war der erste Aufschlag, der erste Tauchgang in die lärmende Tiefe. Wir hoffen, wir konnten dir ein Gefühl dafür geben, dass Unterwasserlärm weit mehr ist als nur ein bisschen Hintergrundgeräusch. Er ist eine ernste, globale und vor allem stark unterschätzte Bedrohung für die Gesundheit unserer Ozeane und ihrer Bewohner. Eine Bedrohung, die wir selbst verursachen und die wir dringend angehen müssen.
Wir haben die Grundlagen gelegt, die Physik (vereinfacht) erklärt und die Gründe beleuchtet, warum dieses Problem so oft unter dem Radar fliegt. Wir haben gesehen, dass der Ozean von Natur aus eine Klanglandschaft ist, die für das Überleben essenziell ist, und dass wir diese Landschaft mit unserer menschengemachten Kakophonie zerstören.
Aber keine Sorge, wir lassen dich jetzt nicht mit diesem mulmigen Gefühl allein zurück. Das war erst der Anfang unseres Krawalls gegen die Ignoranz. Im nächsten Teil unserer Deep Dive Serie nehmen wir die Hauptquellen des Krachs genauer unter die Lupe: Von den allgegenwärtigen Schiffsschrauben über die ohrenbetäubenden Sonare bis hin zu den explosiven Methoden der Öl- und Gasindustrie. Sei bereit für eine detaillierte Lärmquellenanalyse – natürlich wie immer im unverwechselbaren Klartext-Stil der Möwen-Crew.
Bis dahin: Hör mal genauer hin, wenn du das nächste Mal am Meer bist. Auch wenn du den Lärm unter der Oberfläche nicht direkt hörst – er ist da. Und er wird lauter. Es ist Zeit, dass wir ihm unsere Aufmerksamkeit schenken.
Bleib dran, bleib kritisch und vor allem: Bleib neugierig!
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Quellen:
Discovery of Sound in the Sea (DOSITS), University of Rhode Island
OceanCare (Organisation & Website)
NRDC (Natural Resources Defense Council) (Organisation & Website)
Wissenschaftliche Studien zum Lärmanstieg (z.B. Andrew et al., 2002; McDonald et al., 2006)
Daniel Pauly (Konzept: Shifting Baseline Syndrome)
NOAA Fisheries (US-Behörde, Ressourcen zu Unterwasserschall)
IMO (International Maritime Organization) (Richtlinien zu Schifffahrtslärm)
Allgemeine Akustik-Fachliteratur (Definition von Lärm)
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