Stativ der Anklage: Ein Tiefseefisch spricht Klartext
- Brenda Beachbum
- 22. Mai
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 5 Tagen

Von Brenda Beachbum
Hier bei „The Ocean Tribune“ sind wir ja bekannt dafür, uns für eine gute Story auch mal nass zu machen – und zwar richtig. Wir haben schon die Gesänge von Buckelwalen in der Arktis aufgenommen, bis uns fast die Mikrofone eingefroren sind, und sind durch Mangrovenwälder gewatet, die als unersetzliche Kinderstube für Meeresleben dienen und doch so bedroht sind. Aber unser heutiges Unterfangen stellt das alles in den Schatten. Wir sind tiefer getaucht als je zuvor, in eine Welt ohne Sonnenlicht, regiert von unvorstellbarem Druck und eisiger Kälte. Dank unserer brandneuen Tiefsee-Sonde „Plauderfisch 1“ und eines bahnbrechenden Bio-Akustik-Übersetzers (der erstaunlich gut Sarkasmus erkennt), haben wir ein exklusives Interview mit einem Bewohner dieser fremden Welt arrangiert.
Unser Gesprächspartner gehört zu einer Spezies, die die meisten Menschen wohl noch nie bewusst wahrgenommen haben: Bathypterois grallator, der Stativfisch. Ein elegantes, fast zerbrechlich wirkendes Wesen, das auf seinen verlängerten Flossenstrahlen wie auf Stelzen über den Meeresboden „steht“ und auf vorbeischwimmende Beute lauert. Normalerweise. Denn unser Interviewpartner, der auf den leicht aristokratisch klingenden Namen Bartholomew hört, ist alles andere als in Lauerstellung. Er ist aufgebracht. Zornig. Und zutiefst betrübt. Zur seiner eigenen Sicherheit, zeigen wir sein Gesicht nicht.
Er hat uns – The Ocean Tribune – kontaktiert (fragt nicht wie, die Technik ist kompliziert und involviert vermutlich Quanten-Flatulenz), um der Welt da oben seine Sicht der Dinge mitzuteilen. Schnall dich an, es wird ... tiefgründig.
Bartholomew, vielen herzlichen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, mit uns zu sprechen. Wir wissen, dass die Umstände für Sie ... schwierig sind.
(Seine Stimme klingt im Übersetzer erstaunlich klar, aber mit einem unterschwelligen Zittern, wie eine gestimmte Saite kurz vor dem Reißen. Er steht stocksteif auf seinen langen Flossen vor unserer Kamera, nur die Kiemendeckel bewegen sich leicht.) „Schwierig“ ist eine Untertreibung von geradezu abyssalen Ausmaßen, meine Damen und Herren von der Oberfläche. „Katastrophal“ träfe es eher. Und sparen Sie sich das „Sie“. Nennen Sie mich Bartholomew. In Anbetracht der Verwüstung, die Ihresgleichen hier anrichtet, erscheinen mir Förmlichkeiten geradezu absurd.
Äh, gut. Bartholomew. Wir sind hier, um über die massiven Veränderungen zu sprechen, die Ihre Heimat derzeit erfährt ... wir meinen den Tiefseebergbau.
(Seine langen Brustflossen, die er normalerweise ruhig neben seinem Körper hält, zucken unmerklich. Ein feiner Sandwirbel löst sich von einer seiner „Stelzen“.) Veränderungen? Sie nennen es „Veränderungen“, wenn gigantische, lärmende Monstrositäten über den seit Äonen unberührten Boden pflügen? Wenn das Fundament unserer Existenz buchstäblich unter unseren Flossen weggerissen wird? Das ist keine „Veränderung“, das ist ein Pogrom! Ein mechanisierter Vandalismus sondergleichen! Stellen Sie sich vor, man würde Ihre Parks, Ihre Bibliotheken, Ihre Friedhöfe mit riesigen Rasenmähern einebnen, um Kieselsteine für Ziergärten zu sammeln!
Das sind sehr drastische Vergleiche ...
Drastisch? DRAS...? Meine Existenz hier unten basiert auf Stille! Auf feinsten Vibrationen im Wasser, die mir Beute verraten! Auf einem stabilen Untergrund! Und was habt ihr gebracht? Ohrenbetäubenden Lärm, der jeden Sinn betäubt! Erschütterungen, die einem die Knochen – äh, Gräten – im Leib erzittern lassen! Und diese ... diese Schürfmaschinen! Sie haben meine Nachbarn geholt! Meine Bekannten! Lebewesen, mit denen ich diesen stillen Winkel des Universums geteilt habe!
Wir möchten unser tiefstes Mitgefühl ausdrücken. Können Sie uns erzählen, wie das Leben hier war, bevor diese Aktivitäten begannen?
(Er verlagert sein Gewicht leicht, seine langen Bauchflossen-Stelzen sinken etwas tiefer in den Schlamm. Seine Stimme wird brüchig.) Es war ... geordnet. In seiner eigenen, langsamen Art. Eine Welt der Geduld. Man steht. Man wartet. Man lauscht den unsichtbaren Strömungen. Man spürt das Leben um sich herum. Die kleinen Krebstierchen, die wie winzige Geister über den Grund huschten. Die Borstenwürmer, die ihre filigranen Muster in den Schlick zeichneten. Und meine Gemeinschaft ... da war Barnaby, der Blobfisch. Sah immer etwas melancholisch aus, ich gebe es zu, aber er hatte eine Seele von unendlicher Sanftmut. Konnte die subtilsten Veränderungen im chemischen Milieu erspüren. Verschwunden. Vermutlich aufgesogen und zermahlen von diesen ... Dingern.
Das ist schrecklich zu hören.
(Ein bitteres Geräusch, das der Übersetzer als eine Art trockenes Schlucken interpretiert.) Schrecklich? Es ist eine Auslöschung! Dann war da Esmeralda, die Vampirtintenfischdame. Zugegeben, etwas theatralisch mit ihrem Umhang und den Leuchtorganen, aber sie kannte die alten Geschichten. Legenden von Kreaturen, die schon hier lebten, bevor die Kontinente ihre heutige Form hatten. Wir trafen uns manchmal an den Hängen der Tiefseerinnen. Jetzt ... Funkstille. Ihr bevorzugter Ruheplatz ist nun eine Schlammwüste, durchzogen von tiefen Furchen. Und Günther, der Pelikanaal! Ein Grobian, gewiss, aber mit einem Herzen – oder was auch immer Aale da haben – am rechten Fleck. Immer für einen derben Witz zu haben, wenn er nicht gerade versuchte, alles zu verschlingen, was kleiner war als er selbst. Er wurde zuletzt gesehen, als er neugierig auf eines dieser blendenden Lichter zuschwamm, die von den Schiffen da oben herabbaumeln. Seither fehlt jede Spur. Wir sind ... dezimiert.
Wie hat das alles angefangen? Wie haben Sie es wahrgenommen?
Zuerst war es nur ein fernes Dröhnen. Ein niederfrequentes Vibrieren, das durch den Meeresboden kroch. Unnatürlich. Persistent. Anders als die gelegentlichen seismischen Aktivitäten oder die tiefen Rufe der Wale. Dann kamen Lichter. Nicht die sanfte Biolumineszenz, an die wir gewöhnt sind. Nein, harte, kalte Strahlenbündel, die die Dunkelheit zerschnitten und Panik verbreiteten. Und schließlich der Lärm. Unbeschreiblich. Ein permanentes Mahlen, Schaben, Krachen. Stellen Sie sich vor, ein Gebirge würde bei lebendigem Leib zermalmt – und das Geräusch würde direkt in Ihr Gehirn übertragen. Die Druckwellen allein sind tödlich für kleinere, empfindlichere Organismen. Und dann sah ich sie zum ersten Mal ... diese Kolosse aus Metall. Langsam, unaufhaltsam, alles verschlingend. Sie hinterlassen nichts als Zerstörung und eine trübe Wolke aus aufgewirbeltem Sediment, die alles erstickt, was nicht schnell genug fliehen kann. Und wir Stativfische ... wir sind nicht für die Flucht gebaut. Wir sind für das Ausharren. Das war bisher unsere Stärke. Jetzt ist es unser Verhängnis.
Es gibt Argumente, dass die Metalle, die hier gewonnen werden, für Technologien benötigt werden, die der Umwelt an Land helfen sollen – für Batterien, erneuerbare Energien ...
(Seine Stimme wird schneidend scharf. Er hebt eine seiner Brustflossen leicht an, wie ein Professor, der einen besonders dummen Schüler zurechtweist.) Ach, die Mär von der grünen Lüge! Sie wollen also Ihre Atmosphäre retten, indem Sie das Fundament des größten Ökosystems dieses Planeten zerstören? Das ist, mit Verlaub, an Zynismus kaum zu überbieten! Sie sprechen von Nachhaltigkeit und schicken gleichzeitig Flotten von Schweröl verbrennenden Schiffen hierher, um mit energieintensiven Robotern den Meeresboden umzupflügen? Für Metalle, die Sie zum Großteil bereits an der Oberfläche besitzen, aber zu faul oder zu geizig sind, sie effizient zu recyceln? Ist Ihnen der Begriff „geschlossener Kreislauf“ gänzlich unbekannt? Sie opfern eine Jahrmillionen alte, unersetzliche Welt für den kurzfristigen Komfort Ihrer Spezies und nennen das „Fortschritt“? Ich nenne es Barbarei! Ökologische Idiotie!
Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist ja ebenfalls tief besorgt über die Langzeitfolgen und die Zerstörung von Biodiversität ...
Ah, die Wissenschaftler! Einige von Ihnen scheinen tatsächlich zu verstehen, was hier auf dem Spiel steht. Aber wer hört schon auf die Warner in Ihren Reihen, wenn der Ruf des Profits lockt? Es ist doch evident: Dies ist ein komplexes, fragiles System. Der Schlamm, den Sie verächtlich „Dreck“ nennen mögen, ist ein lebendiges Archiv und ein Habitat! Die Manganknollen, auf die Sie so scharf sind, sind nicht nur Metallaggregate; sie sind Inseln des Lebens, Substrat für Schwämme, Korallen, Mikroorganismen, die wiederum Nahrung für andere sind. Entfernen Sie sie, und Sie entfernen nicht nur die Knollen, sondern ganze Lebensgemeinschaften! Das ist, als würden Sie aus einem Wald nicht nur die Bäume fällen, sondern auch gleich den gesamten Mutterboden abtragen und sich dann wundern, warum nichts mehr wächst! Und es wächst eben nicht einfach nach. Nicht in menschlichen Zeitmaßstäben. Vielleicht niemals.
Neben der Wut spüren wir auch eine tiefe Trauer in Ihrer Stimme ...
(Er senkt den Kopf, soweit es seine Anatomie zulässt. Seine Flossen zittern nun deutlich.) Wut ist die Rüstung. Darunter ... ist Verlust. Ein Ozean davon. Stellen Sie sich Ihre Welt vor, und plötzlich fehlen ganze Städte. Nicht durch Krieg oder Naturkatastrophen, sondern weil ein fremder Riese beschlossen hat, den Asphalt aufzurollen, weil er die Kiesel darunter hübsch fand. Man ... steht hier. An seinem angestammten Platz. Und wo gestern noch Barnaby in seiner stoischen Art existierte, ist heute ein Krater. Wo Esmeralda ihre eleganten Bahnen zog, ist nun eine monotone Schlammwüste. Man lauscht in die Stille, aber es ist nicht mehr die lebendige Stille von einst. Es ist die Stille eines Friedhofs. Ja, ich trauere. Um meine Freunde. Um die Zerstörung der Harmonie. Um die Dummheit derer, die nicht sehen wollen, was sie tun.
Was möchten Sie den Menschen an der Oberfläche mit auf den Weg geben? Haben Sie eine Botschaft?
(Er richtet sich wieder auf, seine Haltung wirkt nun fast herausfordernd. Die Stimme ist fest, jeder Anflug von Zittern ist verschwunden.) Ja. Eine dringende Bitte, die gleichzeitig eine Warnung ist: Halten Sie inne! Denken Sie nach! Ist der Preis wirklich gerechtfertigt? Sie suchen im All nach Spuren von Leben, während Sie dabei sind, eine einzigartige Biosphäre auf Ihrem eigenen Planeten auszuradieren – eine Welt, die Sie kaum zu verstehen begonnen haben. Diese Tiefsee ist kein unerschlossener Rohstofflagerplatz. Sie ist ein integraler Bestandteil des planetaren Systems. Ihre Zerstörung wird Konsequenzen haben, die Sie heute noch nicht absehen können, die aber unweigerlich kommen werden. Vielleicht nicht morgen, aber übermorgen. Lassen Sie diesen Ort in Frieden! Konzentrieren Sie Ihre Ingenieurskunst auf das Recycling dessen, was Sie bereits haben, auf echte Nachhaltigkeit, statt neue Wunden in die Erde zu reißen. Erinnern Sie sich an Barnaby! An Esmeralda! An Günther! Möge ihr unnötiger Verlust Sie zu klügeren Entscheidungen bewegen!
Bartholomew, das sind Worte, die nachdenklich stimmen sollten. Wir danken Ihnen für Ihre Offenheit.
(Wieder das trockene, schluckende Geräusch.) Schreiben Sie Ihre Geschichte. Vielleicht öffnet sie ja ein paar Augen da oben, bevor es endgültig zu spät ist. Aber erwarten Sie keinen Dank von uns. Sie dokumentieren gerade die Zerstörung unserer Welt durch Ihre eigene Spezies. Eine zweifelhafte Ehre. Und nun, wenn Sie gestatten, ich benötige Ruhe. Das ständige Vibrieren Ihrer Sonde und das grelle Licht sind ... unerträglich. Ich muss einen neuen Standplatz finden. Falls es noch einen unberührten Flecken gibt. Gehen Sie. Und richten Sie Ihren Leuten aus: Wir beobachten Sie. Auch wenn Sie uns nicht sehen.
(Bartholomew verharrt noch einen Moment regungslos, dann löst er sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung vom Boden und gleitet langsam, fast gespenstisch, aus dem Lichtkegel unserer Kamera in die undurchdringliche Schwärze der Tiefsee.)
Herzlichen Dank!
Das Gespräch mit Bartholomew, dem Stativfisch, lässt uns betroffen und nachdenklich zurück. Seine präzise formulierte Wut und seine stille Trauer verleihen der abstrakten Bedrohung des Tiefseebergbaus ein Gesicht – oder vielmehr eine Gestalt, die auf fragilen Flossen am Abgrund steht. Seine Schilderungen sind keine Übertreibungen eines verärgerten Meeresbewohners; sie spiegeln die ernsten Warnungen von Wissenschaftlern weltweit wider, die vor den irreversiblen Schäden an einem der letzten weitgehend unberührten Ökosysteme unseres Planeten warnen.
Bartholomew hat uns daran erinnert, dass die Tiefsee kein lebloser Schlammplatz ist, sondern eine komplexe Welt voller einzigartiger Lebensformen und ökologischer Prozesse, deren Bedeutung wir erst zu erahnen beginnen. Die „Rohstoffe“, die wir begehren, sind Teil eines lebendigen Systems. Ihre Entnahme ist kein chirurgischer Eingriff, sondern eine Amputation ohne Betäubung.
„The Ocean Tribune“ wird die Entwicklungen im Tiefseebergbau weiterhin kritisch begleiten. Bartholomews Stimme, stellvertretend für die schweigende Mehrheit der Tiefseebewohner, muss gehört werden. Sein Appell ist klar: Die Jagd nach kurzfristigem Gewinn darf nicht zur Zerstörung eines unersetzlichen Naturerbes führen. Wir müssen lernen, die Grenzen unseres Handelns zu erkennen und zu respektieren – besonders dort, wo die Folgen so weitreichend und endgültig sein könnten. Die Frage ist nicht länger, was wir aus der Tiefe holen können, sondern was wir bereit sind, dafür für immer zu verlieren. Bartholomew hat uns die Antwort aus seiner Sicht gegeben. Es liegt an uns, zuzuhören.
Ahoi.
The Ocean Tribune
Wir wissen, was die Ozeane zu sagen haben!