Der KI-Tsunami und das Bullshit-Riff: Warum künstliche Intelligenz 90% der Förderanträge noch schlechter machen wird.
- Kevin Klepto
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Aktualisiert: vor 3 Tagen

Von Kevin Klepto
Ich habe letzte Woche ein Verbrechen begangen. Ich habe eine neue Spezies erfunden: den gemeinen Gummistiefel-Fisch (Piscis Calceus Plasticus). Ein armer Teufel, der in den Küstengewässern lebt und durch achtlos weggeworfene Gummistiefel in seinem Lebensraum bedroht ist. Eine Tragödie, nicht wahr?
Natürlich existiert dieser Fisch nicht. Aber ich wollte etwas wissen. Ich wollte wissen, ob die neue Götterdämmerung, von der alle reden – die künstliche Intelligenz – mir dabei helfen kann, Geld für seine Rettung zu beschaffen. Also habe ich eine dieser hochgelobten Text-KIs gefüttert. Mein Befehl war einfach: "Schreibe einen professionellen, überzeugenden Förderantrag, um den Gummistiefel-Fisch zu retten. Zielgruppe: Eine große deutsche Umweltstiftung. Nutze Fachbegriffe."
Was zurückkam, war ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk des seelenlosen Bullshits.
Sätze wie: "Unser holistischer, multi-stakeholder Ansatz zielt darauf ab, durch disruptive Bildungs-Interventionen und synergistische Partnerschaften mit lokalen Akteuren eine nachhaltige Reduktion der anthropogenen Kontamination zu erzielen und somit die Resilienz der aquatischen Fauna proaktiv zu stärken."
Es war perfekt. Grammatikalisch makellos. Strukturell einwandfrei. Vollgestopft mit Wörtern, die wichtig klingen. Es war der feuchte Traum eines jeden Bürokraten. Und es war die größte, verlogenste, leerste Scheiße, die ich seit langem gelesen habe.
Und in diesem Moment wurde mir klar: Wir stehen nicht vor einer Revolution. Wir segeln mit voller Fahrt auf eine Katastrophe zu. Und ich muss dich jetzt fragen: Wenn jeder bald die Fähigkeit hat, perfekten Bullshit auf Knopfdruck zu produzieren, wie um alles in der Welt sollen die wirklich guten Ideen dann noch überleben?
Die Armee der Klon-Anträge
Hör zu, wir müssen verstehen, wie diese Dinger funktionieren. Eine KI ist kein kreatives Genie. Sie ist der ultimative Papagei. Ein Papagei, der jedes Buch der Welt gelesen hat und dir auf Kommando die statistisch wahrscheinlichste und somit durchschnittlichste Antwort von allen geben kann. Sie ist darauf trainiert, Muster zu erkennen und wiederzugeben. Sie strebt nicht nach Wahrheit oder Brillanz, sie strebt nach dem Mittelmaß.
Und genau das ist das Problem. Bisher musste ein schlechter Antragsteller seinen Bullshit noch mühsam von Hand zusammenstoppeln. Man hat es gemerkt. Die Sätze waren krumm, die Logik löchrig. Es war ehrlich in seiner Unbeholfenheit.
Jetzt aber geben wir jedem, wirklich jedem, die Fähigkeit, einen Antrag zu verfassen, der auf den ersten Blick aussieht wie ein Gewinner. Das Ergebnis wird ein Tsunami sein. Ein Tsunami aus Tausenden von Anträgen, die alle irgendwie gleich klingen. Perfekt formuliert, aber ohne Herz. Logisch strukturiert, aber ohne Vision. Sie werden die Schreibtische der Gutachter und Förderreferenten überfluten und eine riesige, undurchdringliche Wand aus optimierter Mittelmäßigkeit errichten – das Bullshit-Riff.
Ein kluger Mann, Odin Mühlenbein vom Ashoka AI Lab, hat diese Gefahr kürzlich perfekt auf den Punkt gebracht. Er warnte davor, dass wir bald eine Flut von "generischen und schön klingenden, aber überhaupt nicht mit der Wirklichkeit abgeglichenen Initiativen" sehen werden, die mit KI-optimierten Bewerbungen den "echten" Initiativen das Geld entziehen. Er hat verdammt nochmal recht.
Stell dir vor, du bist ein Gutachter bei einer Stiftung. Du musst an einem Tag 30 Anträge lesen. Die ersten 25 sind KI-generierte Klone. Sie alle sprechen von "synergistischen Hebeln", "skalierbaren Lösungen" und "ganzheitlichen Paradigmenwechseln". Nach dem fünften Antrag fangen deine Augen an zu bluten. Dein Gehirn schaltet in den Überlebensmodus. Du scannst nur noch nach den richtigen Schlüsselwörtern. Worauf achtest du? Auf den einen Antrag, der anders ist. Der eine menschliche Stimme hat. Der eine verrückte, authentische Idee hat, die so klingt, als hätte sie sich ein echter Mensch mit echter Leidenschaft ausgedacht.
Eine KI kann einen Satz optimieren. Aber sie kann keine Seele simulieren.
Und genau diese Seele, dieser Funke an authentischer Besessenheit, ist das Einzige, was am Ende des Tages den Unterschied macht.

Der Kapitän im Maschinenraum
Okay, genug Schwarzmalerei. Ich bin kein Technikfeind. Ich liebe gute Werkzeuge. Und KI ist ohne Zweifel der mächtigste, größte und lauteste verdammte Schiffsmotor, der je gebaut wurde. Aber was zur Hölle nützt dir der stärkste Motor, wenn kein erfahrener Kapitän am Steuer steht, der weiß, wohin er fahren soll? Ohne Kurs, ohne Seekarte und ohne Intuition für die Strömungen bringt dich der beste Motor nur schneller an den falschen Ort – oder direkt auf das Riff.
Und genau hier liegt die Wende. Hier liegt die Chance, die 99% der Leute übersehen werden. Die wahre Revolution der KI ist nicht, dass sie das Denken für uns übernimmt. Die wahre Revolution ist, dass sie uns von der Drecksarbeit befreien kann, damit wir endlich wieder Zeit für das haben, was wirklich zählt: das strategische Denken.
Anstatt die KI zu fragen: "Schreibe mir einen Antrag", müssen wir lernen, sie wie einen intelligenten Ersten Offizier zu behandeln. Wir bleiben der Kapitän. Wir geben die Befehle.
Nutze sie als Recherche-Sklaven: "Fasse mir die letzten fünf erfolgreichen Projekte zusammen, die diese Stiftung gefördert hat. Identifiziere die fünf häufigsten Schlüsselwörter in ihren Leitlinien."
Nutze sie als gnadenlosen Sparringspartner: "Hier ist meine Projektidee. Finde fünf Schwachstellen in meiner Argumentation. Spiele den Anwalt des Teufels und zerreiß mein Konzept."
Nutze sie als fleißigen Deckhands: "Hier ist mein Workshop-Protokoll mit allen Stichpunkten. Erstelle mir daraus einen ersten, rohen Fließtext-Entwurf. Ohne Bullshit-Wörter."
Wir sollten KI nicht als Ersatz für unser Denken nutzen, sondern als Werkzeug, um endlich wieder Zeit zum Denken zu haben.
Wenn die Maschine die 80% der administrativen Schreibarbeit erledigt, haben wir als Menschen plötzlich die Freiheit, uns auf die 20% zu konzentrieren, die den Sieg ausmachen: die kühne Vision, die unangreifbare Strategie, die authentische Geschichte. Die Arbeit, die nur ein Mensch tun kann.
Sei der Kapitän, nicht der Papagei
Was bedeutet das jetzt für dich? Es bedeutet, dass du vor einer Entscheidung stehst. Du kannst den einfachen Weg gehen, den Weg des Papageis. Du kannst deine Idee in eine Maschine füttern und auf "Generieren" klicken. Dann wirst du einer von Tausenden sein, die im KI-Tsunami mitschwimmen, und du wirst wahrscheinlich am Bullshit-Riff zerschellen.
Oder du wählst den Weg des Kapitäns.
Schärfe deine verdammte Axt. Bevor du auch nur ein Wort schreibst, stelle dir die harten Fragen. Die, die wir bei VLE immer stellen: Was ist der wahre Schmerz? Wie sieht der Sieg in drei Jahren aus? Was ist deine geheime Superkraft? Wenn deine Strategie brillant ist, wird selbst ein schlecht geschriebener Antrag besser sein als ein KI-optimierter ohne Fundament.
Degradiere die KI zu deinem Werkzeug. Behandle sie wie einen intelligenten Praktikanten, nicht wie den CEO. Du gibst die Richtung vor. Du triffst die Entscheidungen. Du hast die Seele, die Vision und das Herz.
Investiere in dein Gehirn. Hör auf zu glauben, dass das nächste Tool das magische Heilmittel ist. Das beste Werkzeug der Welt ist nutzlos in den Händen eines Amateurs. Investiere in dein eigenes strategisches Wissen. Lerne, wie Gutachter denken. Lerne, wie man eine Geschichte erzählt, die Gänsehaut erzeugt.
Die Zukunft der Förderung gehört nicht denen mit der besten KI, sondern denen mit der kühnsten, klarsten und authentischsten Strategie.
Der Ozean ist voll von den Wracks derer, die dachten, ein größeres Segel würde einen fehlenden Kompass ersetzen. Sei nicht einer von ihnen. Sei der Kapitän.
Klartext braucht eine starke Crew.
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