Wer schreibt der Tiefsee die Regeln? Der Mensch als Natur-TÜV – Geniestreich oder Größenwahn?
- Gary Gullson
- 12. Juni
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 2 Tagen

Von Gary Gullson
Ahoi, liebe Landratte und lieber Seebär, Meeresliebhaber und kritischer Denker! Hier ist wieder deine Möwen-Crew von der Ocean Tribune, und heute haben wir ein Thema auf dem Tisch, das so tiefgründig ist wie der Marianengraben und so heikel wie ein Date mit ‘ner schlecht gelaunten Krake: Wer zum Teufel gibt uns Menschen eigentlich das Recht, der Natur Vorschriften zu machen? Und welche Rolle spielen die Wissenschaftler in diesem manchmal trüben Spiel?
Stell dir vor, die Fische würden im Bundestag darüber abstimmen, wie viel Lärm und Müll die Menschen an Land noch produzieren dürfen, bevor es „unakzeptabel“ für die aquatische Lebensqualität wird. Klingt absurd? Ist es auch. Aber genau das machen wir mit den Ozeanen, und als Paradebeispiel dient uns heute der geplante Goldrausch in der Tiefsee: das sogenannte Deep Sea Mining.
Kapitel 1: Die Lockrufe der Sirenen – Warum wir (angeblich) in die Tiefe müssen
Es ist ein verführerisches Lied, das uns da aus den Tiefen der Konzernetagen und mancher Regierungskreise entgegenschallt. Die Melodie geht ungefähr so: „Wir brauchen Rohstoffe! Dringend! Für die grüne Wende! Für E-Autos, für Windräder, für Solarpaneele! Und schaut mal, da unten in der Tiefsee, im Clarion Clipperton Field (CCZ) zum Beispiel, da liegen Billionen von Manganknollen, vollgestopft mit Nickel, Kobalt, Kupfer und Mangan! Das ist die Lösung all unserer Probleme!“
Die belgische Firma GSR (Global Sea Mineral Resources) ist einer der Akteure, die mit ihren Explorationslizenzen von der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) schon mal den Fuß in der Tür zur Tiefsee-Schatzkammer haben. Die ISA, das klingt erstmal gut, eine UN-Behörde, die das „gemeinsame Erbe der Menschheit“ verwalten soll. Aber dieses Erbe scheint für manche eher eine Mine zu sein, die es auszubeuten gilt.
Die Befürworter des Tiefseebergbaus argumentieren, dass wir ohne diese Metalle die Energiewende nicht schaffen. Sie sprechen von Rohstoffsicherheit, von Unabhängigkeit von politisch instabilen Lieferketten an Land. Und sie betonen immer wieder: „Wir machen das ja nicht einfach so! Wir forschen! Wir haben Wissenschaftler an Bord, die sicherstellen, dass alles ‘verantwortungsvoll’ abläuft und die Schäden ‘minimiert’ werden.“ Klingt fast so, als würden sie dem Meeresboden nur ein kleines Pflaster aufkleben, nachdem sie ihm die Haut abgezogen haben.
Das Narrativ vom "sauberen" Tiefseebergbau, der uns die "schmutzigen" Minen an Land erspart, ist verlockend, aber hält es einer kritischen Betrachtung stand?
Unser salziger Kommentar: Klar, die Idee, Metalle für grüne Technologien zu gewinnen, klingt erstmal nach ‘ner guten Sache. Aber mal ehrlich, ist das nicht auch ein bisschen so, als würde man versuchen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben? Und wie „grün“ kann eine Technologie sein, wenn ihre Grundlage die potenzielle Zerstörung eines der letzten unberührten Ökosysteme unseres Planeten ist? Wir bei der Möwen-Crew wittern da nicht nur den Duft von Fortschritt, sondern auch den strengen Geruch von Profitgier und der Bequemlichkeit, nicht ernsthaft über Alternativen wie konsequentes Recycling, die Entwicklung ressourcenschonenderer Technologien und – halte dich fest – eine Reduktion unseres unersättlichen Konsums (Suffizienz!) nachzudenken.
Kapitel 2: Die Orakel im Labor – Wissenschaftler im Spagat zwischen Erkenntnis und „Akzeptanz“
Und hier kommen sie ins Spiel, die Damen und Herren in Weiß (oder an Bord von Forschungsschiffen eher in wetterfester Kleidung): die Wissenschaftler. Sie sind es, die beauftragt werden, Umweltverträglichkeitsstudien (UVS) durchzuführen, Proben zu nehmen, Arten zu zählen (oder zumindest zu versuchen, die unbekannten zu schätzen), Sedimentwolken zu vermessen und letztendlich – und das ist der Knackpunkt – Kriterien und Grenzwerte für „akzeptable“ Schäden zu definieren.
Stell dir das vor: Ein Tiefseeforscher hängt monatelang über Mikroskopen, analysiert DNA-Spuren aus dem Schlamm, beobachtet mit ferngesteuerten Tauchrobotern (ROVs) Kreaturen, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Dann kommt ein Konzern oder eine Behörde und sagt: „Super Arbeit! Und jetzt sag uns mal, wie viel von diesem einzigartigen Zeug wir wegbaggern können, ohne dass es zu schlimm wird.“
Das ist, als würde man einen Kunsthistoriker bitten, einen Grenzwert dafür festzulegen, wie viele Farbpigmente man von der Mona Lisa abkratzen darf, bevor sie nicht mehr als Meisterwerk gilt.
Doch wie 'klein' muss eine Störung sein, um 'große' Erkenntnisse über die Verletzlichkeit der Tiefsee zu liefern? Eine 2022 in der Fachzeitschrift Frontiers in Marine Science veröffentlichte Studie von Haalboom und Kollegen gibt darauf eine beunruhigende Antwort. Im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts MiningImpact wurde im deutschen Lizenzgebiet der Clarion-Clipperton Zone ein scheinbar harmloses, klein-skaliges Experiment durchgeführt: Eine nur einen Meter breite Kettendredge [1] wurde für 12 Stunden über den Meeresboden gezogen, um eine Sedimentwolke zu erzeugen und deren Ausbreitung zu beobachten (Haalboom et al., 2022). Das Ziel: Testen von Monitoring-Strategien für zukünftige, größere Abbauvorhaben.
Die Ergebnisse dieses 'kleinen Kratzers' an der Oberfläche der Tiefsee sind ernüchternd und zeigen, wie sensibel dieses Ökosystem reagiert:
Sichtbare Zerstörung im Nahbereich: Die Studie berichtet, dass eine sichtbare Decke aus wieder abgelagertem Sediment bis zu einer Entfernung von 100 Metern von den Dredge-Spuren nachgewiesen werden konnte. Stell dir vor, selbst ein vergleichsweise kleiner Eingriff hinterlässt eine sichtbare Spur, die das Hundertfache seiner eigenen Breite beträgt!
Nachweisbare Wolke über Hunderte von Metern: Noch alarmierender ist, dass die Sensoren die Ausbreitung der Sedimentwolke bis zu einer Entfernung von mindestens 300 Metern vom Störungsort klar detektieren konnten. Und das bei einer Störung, die laut der Studie selbst nur dazu führte, dass etwa 4% des mobilisierten Sediments überhaupt in Suspension gerieten und die weiter entfernten Sensoren erreichten – der Rest wurde als kohäsive Masse zur Seite geschoben oder lagerte sich sehr nah ab (basierend auf Modellierungen von Purkiani et al., 2021, zitiert in Haalboom et al., 2022).
Wolkenhöhe: Die dichten Teile der Sedimentwolke blieben zwar meist bodennah, stiegen aber gelegentlich bis zu 6 Meter über dem Meeresboden auf. Für Organismen, die an die normalerweise extrem klaren Bedingungen der Tiefsee angepasst sind, kann schon eine geringe Erhöhung der Schwebstoffkonzentration fatal sein, indem sie ihre Kiemen verstopft oder ihre Nahrungsaufnahme behindert.
Diese Zahlen mögen im Vergleich zu den potenziellen Auswirkungen eines industriellen Kollektors gering erscheinen, aber sie sind ein lautes Warnsignal! Wenn schon ein solch begrenzter Eingriff eine nachweisbare Verschmutzungsfahne über Hunderte von Metern zieht, was passiert dann erst, wenn tonnenschwere Maschinen mit vielfacher Breite und Geschwindigkeit den Meeresboden umpflügen?
Ein Expeditionsbericht zu den Tests des größeren 'Patania II' Kollektors der Firma GSR (Peacock et al., The GSR Patania II Expedition: Technical Achievements & Scientific Learnings) bestätigt, dass die initiale Sedimentwolke hier die Form eines dichten, bodennahen Trübestroms annimmt, wobei 92 - 98% des Sediments unterhalb von zwei Metern Höhe verbleiben und eine geschätzte Sedimentmenge von gewaltigen 8 - 12 Kilogramm pro Sekunde freigesetzt wird. Man muss kein Prophet sein, um zu erahnen, dass die daraus resultierenden Wolken um Größenordnungen massiver und weitreichender sein müssen als die der kleinen Forschungsdredge, auch wenn die genaue Ausbreitungsdistanz über Kilometer und Tage hinweg noch Gegenstand weiterer, schwer zugänglicher Fachpublikationen ist.
Die Studie von Haalboom et al. (2022) betont zudem die enormen Herausforderungen beim Monitoring: die Schwierigkeit, Sensoren genau zu kalibrieren, die unterschiedliche Reaktion optischer und akustischer Sensoren auf verschiedene Partikelgrößen und die Notwendigkeit, Monitoring-Strategien für die wesentlich größeren Areale zukünftiger Abbauvorhaben drastisch zu erweitern.
Es ist, als würde man versuchen, mit einer Lupe die Auswirkungen eines Waldbrandes zu erfassen – man sieht Details, aber das Gesamtbild der Zerstörung bleibt schwer fassbar.
Die Tiefsee ist kein totes Nichts. Schätzungen gehen davon aus, dass 70 - 90% der dort lebenden Arten der Wissenschaft noch völlig unbekannt sind. Viele sind endemisch, kommen also nur dort vor. Weg ist weg. Die Manganknollen selbst, die über Jahrmillionen gewachsen sind (ca. 1 bis wenige Millimeter pro Million Jahre!), bilden einen einzigartigen Hartsubstrat-Lebensraum in der sonst schlammigen Ebene. Ihre Entfernung bedeutet den Totalverlust dieses Habitats. Studien wie das deutsche DISCOL-Experiment im peruanischen Becken, wo 1989 der Meeresboden experimentell gepflügt wurde, zeigen selbst nach über 26 Jahren kaum eine Erholung der ursprünglichen Lebensgemeinschaft (GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, diverse Veröffentlichungen z.B. von den Teams um Hjalmar Thiel und Antje Boetius).
Wissenschaftler, die in diesem Feld arbeiten, befinden sich oft in einem ethischen Spagat. Einerseits wollen sie Wissen generieren, verstehen, wie diese Ökosysteme funktionieren. Ohne ihre Arbeit würden Entscheidungen noch willkürlicher getroffen. Andererseits besteht die Gefahr, dass ihre Forschung, selbst wenn sie massive Schäden prognostiziert, instrumentalisiert wird. Frei nach dem Motto: „Seht her, die Wissenschaft hat die Risiken untersucht, also können wir jetzt ‘informiert’ und ‘verantwortungsvoll’ handeln“ – auch wenn ‘verantwortungsvoll’ dann bedeutet, wissentlich Zerstörung in Kauf zu nehmen.
Es gibt aber auch eine laute und wachsende Zahl von Tiefseeforschern, die vehement vor dem Tiefseebergbau warnen. Sie betonen die immensen Wissenslücken, die Unmöglichkeit, die langfristigen Folgen auch nur annähernd abzuschätzen, und die potenzielle Zerstörung von einzigartiger Biodiversität und wichtigen Ökosystemfunktionen (z.B. Kohlenstoffspeicherung). Über 800.000 Menschen, viele NGO’s, verschiedene Industrien und über 37 Ländern haben beispielsweise eine Erklärung oder Petitionen unterzeichnet, die ein Moratorium für den Tiefseebergbau fordert, bis ausreichende wissenschaftliche Informationen vorliegen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.
Unser salziger Kommentar: Liebe Wissenschaftler, ihr seid oft unsere einzige Taschenlampe im Dunkel der Tiefsee. Aber wer hält die Batterien? Und wer entscheidet, wohin ihr leuchten sollt? Die Frage ist nicht nur, was ihr herausfindet, sondern auch, in welchem Rahmen eure Forschung stattfindet und wie eure Ergebnisse dann interpretiert und genutzt werden.
Wenn Wissenschaft dazu dient, Zerstörung als "managebar" oder "akzeptabel" zu definieren, anstatt sie grundsätzlich in Frage zu stellen, dann haben wir ein Problem, das tiefer liegt als jede Manganknolle.
Kapitel 3: Der Aufschrei der Meeresbewohner (und ihrer menschlichen Anwälte) – Die ethische Dimension und das Prinzip Vorsicht
Während Konzerne von Profiten und manche Politiker von Rohstoffsicherheit träumen, gibt es eine wachsende Bewegung, die eine ganz andere Frage stellt: Haben wir überhaupt das Recht dazu? Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace, der WWF, die Deep Sea Conservation Coalition (DSCC) und viele andere laufen Sturm gegen die Pläne zum Tiefseebergbau. Sie argumentieren mit dem intrinsischen Wert der Natur – dem Recht der Ökosysteme, einfach zu existieren, unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen.
Sie pochen auf das Vorsorgeprinzip, einen Grundsatz des Umweltrechts, der besagt: Wenn eine Handlung potenziell schwerwiegende oder irreversible Schäden verursachen könnte, aber keine ausreichende wissenschaftliche Gewissheit über diese Schäden besteht, dann sollten Maßnahmen ergriffen werden, um diese Schäden zu verhindern. Im Klartext: Im Zweifel nicht machen! Angesichts der Tatsache, dass wir mehr über die Oberfläche des Mondes wissen als über die Tiefseeböden unseres eigenen Planeten, müsste das Vorsorgeprinzip hier eigentlich mit voller Wucht greifen.
Länder wie Deutschland, Frankreich, Spanien, Chile, Costa Rica, Neuseeland, die Schweiz, Panama, Palau, Fidschi und Samoa haben sich bereits für eine "vorsorgliche Pause", ein Moratorium oder sogar ein Verbot des Tiefseebergbaus ausgesprochen, bis mehr Wissen vorliegt und Schutzstandards etabliert sind. Das ist ein starkes Signal!
Die Ozeanographin und Tiefseeforscherin Dr. Sylvia Earle hat es mit ihrem berühmten Zitat auf den Punkt gebracht:
"No water, no life. No blue, no green."
Die Ozeane sind die Lunge unseres Planeten, sie regulieren unser Klima, sie sind Heimat einer unvorstellbaren Artenvielfalt. Die Tiefsee spielt dabei eine entscheidende, wenn auch noch wenig verstandene Rolle. Dort einzugreifen, ohne die Konsequenzen zu kennen, ist wie russisches Roulette mit der Zukunft des Planeten zu spielen – mit sechs Kugeln in der Trommel.
Es geht auch um globale Gerechtigkeit. Die Tiefseegebiete jenseits nationaler Gerichtsbarkeit sind als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ deklariert. Aber wer profitiert, wenn dieses Erbe geplündert wird? Hauptsächlich einige wenige Industrienationen und private Unternehmen. Die Risiken und potenziellen Schäden aber trägt die gesamte Weltgemeinschaft, und besonders Entwicklungsländer und kleine Inselstaaten, die oft existenziell von gesunden Meeresökosystemen abhängig sind.
Unser salziger Kommentar: Manchmal haben wir das Gefühl, die Menschheit verhält sich wie ein Kleinkind im Süßwarenladen des Planeten – alles muss angefasst, probiert und am besten sofort aufgegessen werden, ohne an Bauchschmerzen oder die Tatsache zu denken, dass andere vielleicht auch noch was abhaben wollen.
Die Frage ist doch: Lernen wir endlich, unsere Gier zu zügeln und Respekt vor dem zu haben, was wir nicht verstehen oder besitzen?
Oder machen wir weiter, bis auch der letzte Winkel des Planeten unserer "Nutzbarmachung" zum Opfer gefallen ist?
Kapitel 4: Die große Frage – Wer hat das Sagen und wer sollte es haben?
Hier wird’s richtig kompliziert. Die Internationale Meeresbodenbehörde (ISA) in Kingston, Jamaika, ist das Gremium, das die Regeln für den Tiefseebergbau aufstellen und Lizenzen vergeben soll. Sie besteht aus 167 Mitgliedsstaaten plus der EU. Klingt demokratisch, aber die Entscheidungsfindungsprozesse sind oft intransparent und von starken wirtschaftlichen Interessen geprägt. Umweltorganisationen haben oft nur Beobachterstatus und wenig Einfluss.
Das Kernproblem bleibt: Wie definiert man „akzeptable Schäden“ für Ökosysteme, die keine Stimme haben? Wenn ein Wissenschaftler feststellt, dass bei einem bestimmten Abbauverfahren „nur“ 50% der lokalen Biodiversität unwiederbringlich verloren gehen, ist das dann „akzeptabel“? Für wen? Für die verbleibenden 50%? Für die Fische, die ihre Nahrungsgrundlage verlieren? Wohl kaum.
Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten komplexe, über Jahrmillionen gewachsene Ökosysteme „managen“, indem wir ein paar Grenzwerte festlegen. Das ist, als würde man versuchen, einen tropischen Regenwald zu „managen“, indem man vorschreibt, wie viele Bäume pro Hektar gefällt werden dürfen, ohne die komplexen Wechselwirkungen zwischen Flora, Fauna, Boden und Klima wirklich zu verstehen.
Vielleicht müssen wir die Frage radikal anders stellen. Nicht: „Wie viel Schaden ist akzeptabel?“, sondern: „Welche Gebiete müssen absolut tabu sein?“ und „Wie können wir unseren Ressourcenhunger so reduzieren, dass wir nicht in die letzten unberührten Winkel vordringen müssen?“
Alternative Ansätze gibt es zuhauf:
Konsequente Kreislaufwirtschaft: Metalle sind nicht „verbraucht“, sie sind nur in Produkten gebunden. Ein viel höheres Maß an Recycling und Wiederverwendung könnte den Bedarf an Primärrohstoffen drastisch senken. Der WWF hat in Berichten dargelegt, dass eine verbesserte Kreislaufwirtschaft und neue Batterietechnologien den Bedarf an Tiefseemetallen erheblich reduzieren könnten.
Suffizienz und veränderte Konsummuster: Brauchen wir wirklich alle zwei Jahre ein neues Smartphone? Muss jedes Produkt immer größer, schneller, mehr sein? Eine bewusste Reduktion unseres Verbrauchs ist der wirksamste Umweltschutz.
Entwicklung alternativer Technologien: Forschung und Entwicklung sollten sich darauf konzentrieren, Technologien zu entwickeln, die weniger oder keine seltenen Metalle benötigen.
Ausweisung von umfassenden Meeresschutzgebieten (Marine Protected Areas - MPAs): Echte Schutzgebiete, in denen menschliche Eingriffe minimiert werden, sind essenziell für die Regeneration und den Erhalt der marinen Biodiversität. Das „30x30“-Ziel (30% der Meere bis 2030 unter Schutz stellen) ist ein Schritt, aber es kommt auf die Qualität des Schutzes an.
Die Debatte um das Festlegen von Maßstäben für die Meeresumwelt durch Wissenschaftler ist letztlich eine Debatte über unsere grundlegende Beziehung zur Natur. Sehen wir sie als Ressource, die wir nach Belieben ausbeuten können, solange wir die "Schäden" irgendwie "managen"? Oder sehen wir uns als Teil eines größeren Ganzen, mit der Verantwortung, die Integrität der Ökosysteme zu wahren, auch und gerade dort, wo unser Wissen begrenzt ist?

Zahlen, Fakten, salzige Wahrheiten – Das Kleingedruckte des Tiefsee-Roulettes:
Bevor du jetzt denkst, das sei alles nur Seemannsgarn von uns besorgten Möwen – hier nochmal ein paar harte Brocken zum Kauen, die zeigen, womit wir es beim Tiefseebergbau zu tun haben:
Sedimentwolken – Die unsichtbare Invasion: Selbst vergleichsweise kleine Störungen, wie ein 12-stündiges Experiment mit einer nur einen Meter breiten Forschungsdredge, erzeugten bereits Sedimentwolken, die von Sensoren über 300 Meter weit nachgewiesen werden konnten. Eine sichtbare Sedimentschicht bedeckte den Meeresboden noch bis zu 100 Meter vom Ursprung entfernt. Die Wolken selbst stiegen dabei bis zu 6 Meter über dem Meeresboden auf (Quelle: Haalboom et al., 2022, Frontiers in Marine Science). Und das ist nur der Anfang!
Industrielle Dimensionen – Der große Schlamassel: Tests mit industrienahen Kollektor-Prototypen wie dem 'Patania II' der Firma GSR zeigen, welches Ausmaß die Störung annehmen kann. Hier werden geschätzte 8 bis 12 Kilogramm Sediment pro Sekunde vom Meeresboden aufgewirbelt und wieder freigesetzt. Dabei bleiben zwar 92 - 98% dieser Sedimentfracht zunächst in den untersten zwei Metern über dem Meeresboden und bilden dichte Trübeströme, aber die schiere Menge des mobilisierten Materials lässt erahnen, dass die daraus entstehenden, weiter wandernden Verdünnungswolken potenziell riesige Areale beeinflussen können (Quelle: Peacock et al., The GSR Patania II Expedition: Technical Achievements & Scientific Learnings). Die genauen Ausbreitungsdistanzen über Kilometer und Tage werden noch erforscht, aber die Richtung ist klar: Es wird schmutzig, und das nicht zu knapp.
Unbekannte Tiefsee – Ein Sprung ins Dunkle: Schätzungen zufolge sind 70 - 90% der Arten in der Tiefsee der Wissenschaft noch völlig unbekannt. Wir stehen also kurz davor, Ökosysteme zu zerstören, deren Bewohner und Funktionen wir nicht einmal ansatzweise kennen. Das ist, als würde man eine riesige, unschätzbar wertvolle Bibliothek niederbrennen, bevor man auch nur ein einziges Buch darin gelesen hat. Jeder verlorene Tiefseebewohner könnte ein Schlüssel zum Verständnis des Lebens auf der Erde sein – oder einfach nur ein verdammtes Recht haben, in Ruhe gelassen zu werden.
Lärm und Licht – Die Partycrasher der Finsternis: Tiefsee-Organismen sind an absolute Dunkelheit und nahezu völlige Stille angepasst, und das seit Jahrmillionen. Der ohrenbetäubende Lärm und die grelle Lichtverschmutzung durch die riesigen Abbaumaschinen, die 24/7 über den Meeresboden rattern, können ihr Verhalten stören, ihre Kommunikation behindern, sie bei der Nahrungssuche oder Fortpflanzung irritieren und sie aus ihren angestammten Lebensräumen vertreiben. Stell dir vor, in deinem Schlafzimmer landet rund um die Uhr ein schwer beladener Güterzug – angenehm ist anders.
Langzeitschäden – Narben für die Ewigkeit: Die Tiefsee ist kein Ort, der sich mal eben schnell erholt wie ein geschürftes Knie. Die Wachstums- und Regenerationsprozesse laufen hier in geologischen Zeiträumen ab. Ökologische Studien in alten Schleppspuren, die wissenschaftliche Geräte vor Jahrzehnten hinterlassen haben, zeigen: Selbst nach über 26 Jahren ist kaum eine Erholung der ursprünglichen Lebensgemeinschaft sichtbar (Beispiel: DISCOL-Experiment im Peru-Becken). Die Narben, die der Tiefseebergbau hinterlässt, könnten also für menschliche Maßstäbe ewig sichtbar und spürbar bleiben.
Kohlenstoffspeicher Tiefsee – Die tickende Zeitbombe?: Die Sedimente der Tiefsee sind einer der größten aktiven Kohlenstoffspeicher unseres Planeten. Sie spielen eine wichtige Rolle im globalen Kohlenstoffkreislauf und damit für unser Klima. Wenn diese Sedimentschichten durch den Bergbau großflächig umgepflügt und gestört werden, besteht die Gefahr, dass gespeicherter Kohlenstoff wieder freigesetzt wird – möglicherweise in Form von potenten Treibhausgasen wie Methan. Ein Aspekt, der noch viel zu wenig erforscht ist, aber potenziell katastrophale Folgen haben könnte.
Diese Fakten sind keine Panikmache, sondern der aktuelle Stand des Wissens – oder besser gesagt, des Nicht-Wissens, das uns zur höchsten Vorsicht mahnen sollte. Denn wer mit dem Feuer spielt, das er nicht versteht, der verbrennt sich leicht die Flossen. Und in diesem Fall geht es um die Flossen des gesamten Planeten.
Fazit: Kurs halten ins Ungewisse oder das Ruder jetzt rumreißen?
Ahoi, lieber Freund des Salzwassers! Wir sind am Ende unserer heutigen Reise angelangt, aber die Diskussion, die hat gerade erst richtig Fahrt aufgenommen. Die Frage, die wir uns gestellt haben – warum sollten Menschen und ihre wissenschaftlichen Hilfstruppen festlegen, was für die Natur akzeptabel ist – die ist der salzige Kern des Problems.
Unsere Meinung hier bei der Möwen-Crew ist klar: Es ist nicht nur problematisch, es ist eine Form von Anmaßung, die uns schon oft auf Kollisionskurs mit dem Planeten gebracht hat. Wissenschaftler spielen eine wichtige, aber ambivalente Rolle. Sie können uns die Augen für die Wunder und die Verletzlichkeit der Tiefsee öffnen, aber sie können auch, gewollt oder ungewollt, zu Handlangern einer Logik werden, die Zerstörung in "tolerierbare Dosen" verpackt.
Die Entscheidung, ob wir die Tiefsee dem industriellen Zugriff opfern, darf nicht allein in den Händen von Experten, Konzernen oder undurchsichtigen internationalen Gremien liegen.
Wir brauchen eine breite, ehrliche und mutige gesellschaftliche Debatte darüber, welche Zukunft wir für unsere Ozeane wollen. Und in dieser Debatte muss das Vorsorgeprinzip der Kompass sein, nicht die Gier nach den letzten Ressourcen.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir Menschen uns selbst mal ein paar "akzeptable Grenzwerte" auferlegen – für unseren Konsum, unseren Ressourcenhunger, unsere Einmischung in Dinge, die wir nicht verstehen. Bevor wir der Tiefsee also sagen, was sie aushalten soll, sollten wir vielleicht erstmal lernen, unsere eigene Hybris ein wenig zurückzuschrauben. Denn am Ende des Tages hängt unser Überleben nicht davon ab, wie viele Manganknollen wir aus dem Schlamm kratzen, sondern davon, ob wir es schaffen, in Einklang mit diesem wunderbaren blauen Planeten zu leben.
Bleib kritisch, bleib neugierig und vor allem: Bleib laut für die Meere!
Deine Möwen-Crew von The Ocean Tribune
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The Ocean Tribune
Wir wissen, was die Ozeane zu sagen haben!
Fußnoten
Eine Kettendredge (im Englischen oft "chain dredge" oder "chain bag dredge") ist ein relativ einfaches Gerät, das zur Beprobung des Meeresbodens oder zum Fang von bodennah lebenden Organismen (wie z.B. Muscheln, Seesterne oder eben auch Manganknollen in kleinem Maßstab für Forschungszwecke) eingesetzt wird.