Die Nullnummer: Warum "Klimaneutralität" organisierter Selbstmord ist und wir endlich anfangen müssen, zu gewinnen
- Doris Divebomber
- 19. Okt.
- 6 Min. Lesezeit


Von Doris Divebomber
Ich hab' die Nachricht aus Hamburg gesehen. Per Volksentscheid beschlossen, die Stadt möge doch bitte schon 2040 klimaneutral sein, nicht erst 2045. Die Korken knallten. Die Politiker klopften sich auf die Schultern. Ein "Erfolg", titelten die Agenturen.
Ich saß hier in meiner Koje auf der "Möwe", hab mir den Bericht auf dem Tablet durchgelesen, und alles, was ich tun konnte, war, meinen Kopf gegen die Schottwand zu schlagen. Wieder und wieder.
Ein Erfolg? Wirklich?
Wisst ihr, was das ist? Das ist, als würde der Kapitän eines Schiffes, das pro Stunde 2000 Liter Wasser durch ein gigantisches Leck aufnimmt, stolz verkünden, dass die Crew es geschafft hat, ab sofort 2000 Liter Wasser pro Stunde wieder über Bord zu schaufeln. Und alle jubeln. Keiner scheint zu bemerken, dass das Schiff bereits bis zur Reling vollgelaufen ist und die nächste Welle uns alle in den verdammten Abgrund spülen wird.
"Klimaneutralität" ist das gefährlichste, verführerischste und dümmste Ziel, das wir uns je gesetzt haben. Es ist die ambitionierteste Form der Kapitulation. Es ist der Versuch, auf einer Prüfung, bei der wir 150% brauchen, um zu bestehen, eine glatte Fünf zu schreiben und es als strategischen Sieg zu verkaufen. Und ich hab die Schnauze voll davon, so zu tun, als wäre das eine gute Nachricht.
Die große CO2-Lüge: Warum die Badewanne schon überläuft
Halt dich fest, wir machen jetzt einen kurzen, brutalen Tauchgang in die Wirklichkeit. Was bedeutet "klimaneutral" eigentlich? Es bedeutet, dass eine Stadt, ein Unternehmen oder ein Land verspricht, ab einem bestimmten Datum nicht mehr CO2 in die Atmosphäre zu blasen, als es an anderer Stelle wieder bindet oder – und hier wird es richtig schmutzig – durch Zertifikate "kompensiert".
Das klingt auf dem Papier gut. Aber es ist eine fundamentale Lüge, die auf zwei Denkfehlern beruht.
Denkfehler 1: Der Mythos der sauberen Weste.
Die meisten "Neutralitäts"-Pläne basieren auf Kompensation. Ein Konzern fliegt seine Manager um die Welt, aber "kompensiert" das, indem er irgendwo in Guatemala ein Stück Wald kauft, das sowieso nie abgeholzt worden wäre. Eine Stadt baut eine neue Autobahn, aber "kompensiert" das, indem sie in ein Wasserkraftwerk in China investiert, das längst gebaut wird.
Das ist moderner Ablasshandel. Wir beruhigen unser Gewissen, indem wir Geld in ein System pumpen, dessen Wirksamkeit, wie unzählige Studien – zum Beispiel von Organisationen wie Carbon Market Watch – immer wieder belegen, bestenfalls fragwürdig und schlimmstenfalls reiner Betrug ist. Wir hören nicht auf, das Gift ins Wasser zu kippen. Wir bezahlen nur jemanden am anderen Ende des Sees, der uns verspricht, es vielleicht irgendwann mal wieder rauszufischen.
Denkfehler 2: Die ignorierte Badewanne.
Das ist der entscheidende Punkt. Selbst wenn Klimaneutralität perfekt funktionieren würde, wäre sie immer noch eine katastrophale Strategie.
Stell dir die Atmosphäre als eine Badewanne vor. Seit Beginn der industriellen Revolution haben wir den Wasserhahn voll aufgedreht und CO2 reingepumpt. Die Konzentration in der Atmosphäre ist von etwa 280 ppm auf heute über 420 ppm gestiegen, wie die unbestechlichen Messungen der NOAA auf Mauna Loa jeden einzelnen Tag beweisen. Die Badewanne ist randvoll. Sie läuft bereits über. Die Folgen sehen wir jeden Tag: schmelzende Gletscher, sterbende Korallenriffe, brennende Wälder.
"Klimaneutralität" ist nun das glorreiche Versprechen, im Jahr 2040 oder 2050 ... den Wasserhahn zuzudrehen.
Merkst du was?
Wir hören auf, das Problem schlimmer zu machen. Aber wir tun absolut nichts, um das bereits vorhandene, katastrophale Problem zu lösen. Wir stehen bis zum Hals im Wasser und feiern, dass wir aufgehört haben, den Hahn aufzudrehen. Das ist keine Rettungsstrategie. Das ist Irrsinn.
Der Ozean, mein Freund, ist der lebende Beweis für diesen Irrsinn. Er hat, laut dem IPCC, über 90% der überschüssigen Wärme und etwa ein Drittel des gesamten CO2, das wir je produziert haben, geschluckt.
Das Ergebnis? Marine Hitzewellen, die ganze Ökosysteme ausradieren, und eine Versauerung, die das Grundgerüst des Lebens – Korallen, Muscheln, Plankton – bei lebendigem Leibe auflöst. Dem Ozean ist es scheißegal, ob wir 2040 "neutral" sind. Er erstickt an dem Dreck, den wir bereits reingekippt haben.
Der Sprung nach vorn: Von der Null (Klimaneutral) zum Plus
Okay. Genug gebrüllt. Wer nur Probleme wälzt, ohne eine Lösung anzubieten, ist Teil des Problems. Also, was ist die Alternative?
Sie ist einfach, sie ist radikal und sie ist die einzige, die eine verfickte Chance hat, zu funktionieren.
Wir müssen aufhören, von Klimaneutralität zu reden, und anfangen, eine klimapositive Architektur zu bauen.
Das Ziel ist nicht mehr "Null". Das Ziel ist "Netto-Positiv". Das Ziel ist nicht mehr, den Wasserhahn zuzudrehen. Das Ziel ist es, den Stöpsel aus der verdammten Badewanne zu ziehen.
Eine klimapositive Stadt, ein klimapositives Unternehmen ist eine Entität, die mehr Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernt und bindet, als sie emittiert. Sie ist keine Belastung mehr für den Planeten. Sie wird zu einem Teil der Heilung. Sie wird zu einer regenerativen Kraft.
Ist das eine utopische Spinnerei von uns bei der Möwen-Crew? Nein. Es passiert bereits. Die klügsten Köpfe und die mutigsten Unternehmen der Welt haben die Nullnummer längst hinter sich gelassen.
Der Tech-Gigant: Microsoft hat bereits 2020 nicht nur versprochen, bis 2030 klimapositiv ("carbon negative") zu werden. Sie haben versprochen, bis 2050 ihre gesamten historischen Emissionen seit der Firmengründung 1975 wieder aus der Atmosphäre zu entfernen. Das ist keine Kompensation. Das ist eine Zeitmaschine. Sie investieren Milliarden in Technologien wie Direct Air Capture (DAC) von Firmen wie Climeworks, die CO2 direkt aus der Luft filtern.
Der Teppich-Rebell: Der verstorbene Ray Anderson, Gründer des Teppichherstellers Interface, hat schon vor Jahrzehnten das Ziel "Mission Zero" ausgegeben. Aber sein wahres Ziel war immer "Climate Positive". Sie entwickeln bereits Produkte, die während ihres Lebenszyklus mehr CO2 binden, als bei ihrer Herstellung freigesetzt wird. Sie verkaufen keine Teppiche mehr. Sie verkaufen Kohlenstoffsenken.
Das ganze Land: Das kleine Königreich Bhutan, eingeklemmt zwischen den Giganten China und Indien, ist nicht klimaneutral. Es ist massiv klimapositiv. Seine riesigen Wälder absorbieren fast dreimal so viel CO2, wie das ganze Land emittiert. Sie beweisen, dass es möglich ist.
Und jetzt kommt der entscheidende Punkt für uns Ozean-Verrückte: Die größte, ungenutzte und mächtigste Technologie, um klimapositiv zu werden, ist nicht irgendeine komplizierte Maschine. Es ist der Ozean selbst.
"Blue Carbon" ist das Zauberwort. Die Wiederherstellung von Mangrovenwäldern, Seegraswiesen und Kelpwäldern ist die effektivste und oft günstigste Methode, um CO2 in gigantischem Stil zu binden. Ein Hektar Mangrovenwald kann bis zu zehnmal mehr CO2 speichern als ein Hektar tropischer Regenwald. Das ist keine Theorie. Das ist die ungenutzte Superkraft unseres Planeten.
Eine klimapositive Stadt Hamburg würde nicht nur ihre Emissionen senken. Sie würde massiv in die Wiedervernässung der Moore vor ihren Toren und in die Wiederherstellung von Seegraswiesen in der Nord- und Ostsee investieren und so zu einer CO2-Senke werden.
Das ist der Unterschied zwischen Buchhaltung und echter Heilung.
Dein Schlachtplan: Hör auf, die Null zu feiern
So. Die Botschaft sollte angekommen sein. Was machst du jetzt damit? Du bist wahrscheinlich kein Bürgermeister und kein Konzernchef. Aber du bist nicht machtlos.
Ändere deine Sprache. Sofort. Hör auf, das Wort "klimaneutral" als positives Ziel zu verwenden. Nenne es beim Namen: ein ambitionierter Waffenstillstand. Jedes Mal, wenn ein Politiker oder ein Unternehmen sich damit brüstet, fragst du die eine, unangenehme Frage: "Und was ist Ihr Plan, um positiv zu werden? Wann fangen Sie an, den Stöpsel zu ziehen?"
Unterstütze die Architekten des Positiven. Suche die Unternehmen, die NGOs, die Startups, die nicht von "weniger schlecht", sondern von "mehr gut" reden. Die, die regenerative Landwirtschaft betreiben, die Mangroven pflanzen, die an neuen Technologien zur CO2-Entfernung arbeiten. Das sind die, die unsere Zukunft bauen, nicht die, die unsere Vergangenheit verwalten.
Fordere eine neue Architektur. Wenn du das nächste Mal einen Volksentscheid unterschreibst oder eine politische Initiative unterstützt, schau dir die Architektur an. Steht da "neutral" oder steht da "positiv"? Zielt der Plan darauf ab, den Status Quo einzufrieren, oder darauf, das System von Grund auf zu heilen?
Wir haben keine Zeit mehr für halbe Sachen. Wir haben keine Zeit mehr, uns für ein Unentschieden feiern zu lassen, während das Spielfeld unter Wasser steht. Die Ära der Nullen ist vorbei.
Die Zukunft gehört denen, die den Mut haben, ins Plus zu gehen. Es ist an der Zeit, eine Arche zu bauen, nicht nur die Lecks im alten Kahn zu flicken.
Klartext braucht eine starke Crew.
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